„Sehr geehrter Herr Geheimrat,
Einige Monate hervor habe ich Ihnen von hier eine kleine Karte geschrieben, leider, mit der roten Tinte, weil ich keine andere gehabt habe. Ich hoffe Sie haben mich für diese kleine Unhöfflichkeit entschuldigt.
Seit diesem Moment bin ich immer auf die Reise gewesen, und was ich ausgehalten habe ist einfach schrecklich. Jetzt bin ich wieder un Konstantinopel und werde wahrscheinlich noch einige Monate hier bleiben. Dann wieder die Reise und die Gefahr”.
21. Januar, 1915
Die Bitte um Verzeihung eröffnet den Briefzyklus, welcher die Zeitspanne zwischen den Jahren 1915-1921 umfasst. Es ist eine aufregende Zeit, voller historischen Ereignisse und Kataklysmen. Die Briefe befinden sich im Archiv der Universitätsbibliothek Heidelberg. Der Autor dieser Briefe ist Mikhako Tsereteli, ein bekannter Politiker und gesellschaftlich aktiver Mann. Zu dem Zeitpunkt ist er bereits mehr als 30 Jahre alt. Einer, der auf seinem Lebensweg bereits viele Hindernisse und Schwierigkeiten überwinden musste. Die Briefe sind an den Heidelberger Professor Carl Bezold, den renommierten Orientalisten, den Forscher der semitischen Sprachen und Kulturen gerichtet.
Die Postkarte mit der roten Tinte ist leider nicht überliefert worden. Die Sorge des Schreibers um diesen unwesentlichen Umstand, sagt aber mehr über ihn aus, als es die Karte selbst eventuell getan hätte. Hinter den kalligraphisch tadellos ausgeführten Zeilen der Briefe erblickt der Leser einen raffinierten Menschenkenner mit diplomatischem Gespür, einen wahren Kulturträger.
Neben der persönlichen Geschichte von Tsereteli entwerfen die Briefe das vielfältige Bild damaliger Epoche. Beim Lesen dreht sich das Kaleidoskop; ein historisches Ereignis wird vom anderen abgelöst - je nachdem, an welchem geographischen Ort sich der Autor gerade aufhält. Bereits hinter den ersten Zeilen rast der Erste Weltkrieg; viele deutsche Freunde von Tsereteli sind an der Frontlinie. Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Georgiens, die große Epidemie der spanischen Grippe in Europa, die ersten Schritte der neugegründeten Universität in Tiflis, die politischen Auseinandersetzungen von England und Deutschland in Bezug auf das unabhängige Georgien; die verarmte, aber immer noch optimistische georgische Gesellschaft und schließlich das tragische Ende – die Besatzung Georgiens durch bolschewistisches Russland. Alle diese Ereignisse hallen in den 12 Briefen wider.
Ganz leise, ohne Aufheben, flanieren zwischen den Zeilen die berühmten Köpfe damaliger Wissenschaft – so, z.B. Heinrich Wölfflin, der renommierte Kunsthistoriker, Begründer der formalistischen Schule in der Kunstgeschichte, Erforscher der Renaissance und des Barocks. Ihm begegnet Tsereteli in Rom, 1921. Oder auch - “Seine Majestät” Halil-Bey, ein Pionier der Archäologie im Osmanischen Reich und der langjährige Direktor des Museums für antike und islamische Kunst. Ihm schickt Carl Bezold, das Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ein Empfehlungsschreiben für Tsereteli.
Und weil Mikhako Tsereteli immer wieder im Epizentrum der historischen Ereignisse steht, durchkreuzt die Linie der „großen“ Geschichte oft seinen persönlichen Lebensweg. An seiner Biographie wird es deutlich, wie eng und manchmal auch fatal der Menschen mit seiner Zeit verbunden ist.
Die Briefe sind im Archiv der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt. Die Autoren bedanken sich bei der Universität für ihre Aushändigung und die Nutzungsrechte. Universitätsbibliothek, Heidelberg; Nachlaß Carl Bezold; Signatur: Heid. Hs. 1501, 201
Die Korrespondenz zwischen Tsereteli und Bezold ist leider nur teils erhalten. Die Briefe von Carl Bezold sind nicht auffindbar. Und obwohl die Antworten Bezolds nur aus den Folgebriefen von Tsereteli rekonstruiert werden müssen, tritt die tiefe Beziehung zwischen den Meister und seinem „Lehrling“ trotzdem zum Vorschein. Oft wird der Doktorvater von seinem Zögling um Rat gefragt: „Einen anderen Ratgeber und einen besseren habe ich nicht, und heute, wie im Jahre 1914, stehe ich alleine, niemand kann mit mir so gut meinen, wie Sie , das weiss und verstehe ich“, schreibt er ihm Ende des Jahres 1919.
Die wissenschaftliche Tätigkeit von Mikhako Tsereteli und die damit verbundenen Fragen werden zum Leitmotiv des Briefwechsels. Unter dem Einfluss von Eqvtime Takaischwili beschließt er, seine politische Aktivität durch wissenschaftliche Tätigkeit zu ersetzen, seine Wissbegier, die Energie und das Bestreben der Wissenschaft zu Gute kommen zu lassen und somit der Heimat zu dienen. Im Alter von 30 Jahren absolviert er im Jahre 1914 sein Studium mit der Fachrichtung Altorientalistik an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Nach der Gründung der Universität in Tiflis gründet und leitet 1920 Mikhako Tsereteli auf Einladung von Iwane Djawakischwili den Lehrstuhl für die Geschichte des alten Orients und die Assyriologie. Davon berichtet er Professor Bezold, seinem treuen Berater und Wegweiser in der Welt der Wissenschaft. In seinem Brief vom 29. Dezember 1920 lesen wir:
“Ich bin jetzt an unserer Universität als Lehrer der Geschichte des alten Orients und der assyrischen Sprache tätig. Ich lerne selbst und lehre auch die anderen, selbstverständlih die Elemente der Wissenschaft und leider mehr nicht, doch ist das für uns auch nötig”.
Der Wunsch von Mikhako Tsereteli, sich ganz der wissenschaftlichen Tätigkeit zu widmen, stand im ständigen Konflikt mit den politischen Ereignissen seines Heimatlandes. Seine aufständische Seele konnte gegenüber den Herausforderungen der Zeit nicht gleichgültig bleiben. In Jahren 1914-1918 war er einer der Leiter des Unabhängigkeitsausschußes von Georgiens, der im Ausland wirkte. In den Jahren1918-1919 leitete er die diplomatischen Vertretungen der Demokratischen Republik Georgiens in Deutschland und in den skandinavischen Staaten.
Wegen des Zeitmangels musste er die Verteidigung seiner Doktorarbeit aufschieben. 1919 beschließt Mikhako Tsereteli, nach Georgien zurückzukehren. Bis dahin wartet er auf die Begutachtung seiner Arbeit von Bezold aus Heidelberg, um sie verteidigen zu können. Am 30. Dezember 1919 schickt er seinem älteren Freund einen emotional stark aufgeladenen Brief und teilt ihm seine Zukunftspläne mit. “Nicht wegen des Titels, – Gott sei Zeuge, ich habe keine Ambitionen”, schreibt er dem Professor. Er möchte nur nicht in die Heimat ohne einen Berufsabschluß zurückehren und hofft deshalb, die Arbeit im Januar verteidigen zu können. [Wir] wissen aber nicht, was morgen geschieht, ob die Engländer uns wieder den Russen ausliefern warden! Dann wird für mich der Weg nach Georgien für immer gesprerrt, und das will ich nicht, da in Europa ich jetzt unbrauchbar bin, in Georgien aber wenigstens kann ich im Kampfe gegen den Feind sterben”.
Mikhako Tsereteli weiß genau, wie man für das Wohl von Georgien zu “kämpfen” hat: mit großem Enthusiasmus bereitet er sich für die wissenschaftliche Tätigkeit. Er teilt Bezold mit großer Begeisterung mit, daß er mit den Mitteln, die die Vertretung Georgiens der Universität Tiflis zur Verfügung gestellt hat, einen neuen Apparat, einen Epidiaskop und das Bildmaterial von Babylon, Assyrien, Kleinasien und Ägypten besorgen möchte. Am 22. Juni 1920 berichtet er aus Tiflis voller Hoffnung: “Unsere Universität funktioniert ziemlich gut. Wenn man uns ruhig lassen wird, dann kommen wir nach Deutschland, um die jungen deutschen Gelehrten nach Georgien zu nehmen. Jetzt ist es aber unmöglich, Sie werden sicher raten warum”.
In wenigen Monaten ändert sich aber die politische und wirtschaftliche Lage des Landes, und damit auch der Grundton der Briefe. Im Brief von 29. Dezember 1929 beschreibt Tsereteli die unausstehliche Armut, die politische Unstabilität und die andauernden Angriffe seitens Russland. Und auch hier ist er gezwungen seinen Meister um Verzeihung zu bitten: “Ich sollte Ihnen nicht so spät Antwort geben, doch sind wir alle in solchen Zuständen, dass man gezwungen ist, alle Regel der Höflichkeit und sogar die Dankbarkeit der Wohltätern gegenüber zu vergessen”.
Der Kreis schliesst sich. Die politische Umstände mischen sich grob in seine persönlichen Pläne und in die Entwicklungsrichtung des Landes ein.
Beim Lesen der Briefe überfällt einen das Gefühl der Ausweglosigkeit. Der Wunsch Tseretelis und sein Bestreben, in Georgien den europäischen Wissenschaftsstandard zu etablieren, konnten nicht verwirklicht werden. Sein Schicksal, seine in Georgien nicht realisierte wissenschaftliche Karriere scheinen paradigmatisch für die georgische Realität zu sein: das theoretischeWissen um die Richtung und die Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung, wird in der Wirklichkeit kaum umgesetzt.
In seinem letzten Brief an Carl Bezold beschreibt Tsereteli das traurige Ende eines der wichtigsten Abschnitte der georgischen Geschichte. Nach der Besatzung Georgiens durch bolschewistisches Russland geht Mikhako Tsereteli in die Emigration:
“Leider wurde ich gezwungen, meine Heimat wieder zu verlassen und nach
Mikhako Tsereteli am Grab von Carl Bezold. Georgische Nationalbibliothek, Nationales Fotoarchiv, “Georgier im Ausland”, Sammlung Zurab Kedia.
Die Standhaftigkeit seines Lehrlings hat Carl Bezold wahrscheinlich wenig gewundert. Bereits im allerersten Brief des Archivs (vom 21. 01. 1915), der voller Siegeshoffnung für die Deutschen im Ersten Weltkrieg ist, teilt Tsereteli seinem Professor eigene patriotische Stimmungen mit:
“Mich selbst werden Sie sehen, Herr Geheimrat, entweder als einen freien Georgier, oder als einen Deutschen, wenn ich lebendig bleibe”.
Diese Worte scheinen eine selbsterfüllende Prophezeiung zu sein. Ein anderes, neues Kapitel im Leben Tseretelis fängt mit seiner nun lebenslangen Emigration an, darauf folgen seine Erfolge auf dem Gebiet der Orientalistik, davon erzählen aber die Briefe an Professor Bezold nichts. Im Jahre 1922, ein Jahr nach der Auswanderung von Tsereteli, ist Carl Bezold gestorben.
P. S.
Die sorgfältig aufbewahrten und überlieferten Briefe hätten das Tageslicht niemals erblickt, wenn nicht meine unermüdliche und abenteuerlustige Freundin, der “Schreck” der deutschen Archive, Anna Margwelaschwili: auf ihrer Bitte hin begab ich mich in das Archiv der Universitätsbibliothek Heidelberg. Mit einer großen Hilfsbereitschaft hat man uns dort die Kopien angefertigt und beim Studium des Materials viel Erfolg gewünscht. Ich möchte hoffen, dass nun auch die georgischen Forscher diesem interessanten Forschungsmaterial ihre Aufmerksamkeit schenken werden.