1936 lesen wir in den offiziellen sowjetischen Printmedien immer wieder die Aufforderung, „dem Feind den Schweinerüssel zu zerschmettern“ oder „diese Schlangenbrut, diese Volksfeinde, gnadenlos zu zerdrücken“. Jedoch beschäftigte sich die Regierung Sowjetgeorgiens zu jener Zeit nicht nur mit den Repressionen. Sie ließ durch die Medien manchmal auch Erfolgsgeschichten über die sowjetische Kolchosenwirtschaft, welche dem Staat Millionen einbrachte, verbreiten. Die Presse berichtete, dass die Kolchosen ihren Pflichten hervorragend nachkamen und dass sich alle Kolchosen-Mitglieder am gemeinsamen Arbeitsprozess gleichermaßen beteiligten. Als vorbildlich galt die Kolchose der deutschen Siedlung Asureti. Die Medien veröffentlichten stolz einen Brief des hochdekorierten Brigadiers Ernst Kugel an Lawrenti Beria, in welchem er schrieb, dass es in seinem Dorf 138ha Weinberge, Vieh-, Pferde-, Schaf- und Schweinezucht sowie einen großen Weinkeller gab. Ihr Ertrag soll 3 Rubel Millionen betragen haben.
Neben der offiziellen Propaganda äußerte das Komitee für Nationale Angelegenheiten der Südkaukasischen Föderation in einem „streng geheimen“ Bericht seine Unzufriedenheit mit der verschlossenen Lebensart sowie der starken Religiosität der deutschen Bewohner von Luxemburg (heute Bolnisi):
„Die Deutschen betreiben Gartenbau, von früh morgens bis spät abends arbeiten sie auf dem Feld – außer sonntags. An Sonntagen arbeiten sie nicht. Gewöhnlich tragen alle Deutschen Halstücher. Sonntags versammeln sich die Frauen und Männer in der Kirche, wo sie singen und beten. Männer, Frauen und Kinder sprechen ab 10 Jahren türkische Sprache, trotz dass sie kaum Kontakt mit anderen Ethnien haben. Sie interessieren sich nicht für das neue sowjetische Leben. Die deutschen Jugendlichen schließen sich nicht dem Komsomol an, sie wissen nichts über den neuen Alltag. Die Deutschen führen ein sehr verschlossenes Leben“.
Die Bewohner von Luxemburg (ehemals Katharinenfeld, heute Bolnisi) beim Picknick am 1. Mai, 1938. Sammlung Natela Grigolia.
Gemäß der Volkszählung der Sowjetunion von 1926 gab es in Georgien 12.982 Deutsche (6.004 Männer und 6.978 Frauen), welche ein Gebiet erheblicher Größe besiedelten.
Tabelle № 1
Geographischer Ort | insgesamt | männlich | weiblich |
Georgische Sozialistische Sowjetrepublik | 12074 | 5605 | 6469 |
Tbilissi | 3156 | 1280 | 1876 |
Städte und Siedlungen städtischen Typs | 3872 | 1843 | 2029 |
Dörfer | 5046 | 2483 | 2564 |
Abchasische Sozialistische Sowjetrepublik (vor 1936 im Bündnisstatus mit der Georgischen SSR) | 672 | 302 | 370 |
Städte und Siedlungen städtischen Typs | 220 | 78 | 142 |
Dörfer | 452 | 224 | 228 |
Adscharische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik | 228 | 94 | 134 |
Städte und Siedlungen städtischen Typs | 208 | 82 | 126 |
Dörfer | 20 | 12 | 8 |
Südossetisches Autonomes Gebiet | 8 | 3 | 5 |
Städte und Siedlungen städtischen Typs | 5 | 2 | 3 |
Dörfer | 3 | 1 | 2 |
Insgesamt in Georgien | 12982 | 6004 | 6978 |
Die vielschichtige Geschichte der deutschen Siedler in Georgien endete 1941. Am 21. Juni 1941 brach zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland der Krieg aus. Die Deportation der Deutschen verlief parallel zur Eroberung der Gebiete Osteuropas durch die nationalsozialistische Armee. Je tiefer die Nationalsozialisten in die UdSSR eindrangen, desto intensiver wurden die Deutschen verbannt. Obwohl die Nazis nicht bis nach Georgien kamen, hielt die Sowjetmacht es für falsch, dass Deutsche in der Nähe der Frontlinie verblieben. So wurden auch die deutschen Siedler aus dem Kaukasus verbannt.
Am 8. September 1941 wurden auf Grundlage eines Befehls alle deutschen Militärbediensteten vom Dienst in der Roten Armee abberufen. Am 8. Oktober 1941 erbat Lawrenti Beria in einem Brief an den Leiter des Staatlichen Sicherheitskomitees, Stalin, die Erlaubnis, Deutsche deportieren zu dürfen. In seinem Brief wies er darauf hin, dass in allen drei südkaukasischen Republiken insgesamt 48.609 Deutsche lebten.
Schüler aus Luxemburg bei einem Ausflug. Sammlung Natela Grigolia.
In Georgien wurde das NKWD der Sowjetunion mit der Durchführung der Deportation beauftragt, als Zeitraum wurde der 15. bis 30. Oktober 1941 festgelegt. Für die erfolgreiche Umsetzung der Deportation wurde ein bürokratischer Mechanismus erarbeitet, an dem mehrere Leitungsorgane der Sowjetunion beteiligt waren. Der Transport der Deportierten sollte per Bahn stattfinden, oder aber bis Krasnowodsk über das Meer. Der Verkehrsvolkskommissar wurde beauftragt, für die Dauer vom 15. bis 30. Oktober die notwendige Anzahl von Waggons und Lokomotiven bereitzustellen. Mit der Ernährung der Deportierten wurde das Komitee für Volkshandel beauftragt und mit der medizinischen Versorgung das Volksgesundheitskomitee. Der gesamte Prozess der Deportation sollte unter der besonderen Aufsicht und Überwachung des Volkskommissariats (NKWD) durchgeführt werden. Es sollten Punkte eingerichtet werden, an denen die Deportierten mit Nahrung versorgt würden. Auch der Zeitplan der Züge sollte mit ihnen abgesprochen werden. Aus dem Reservefond der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurden 3 Millionen Rubel für die Aufnahme der Deportierten freigegeben. Die Leitung der Kasachischen SSR wurde mit der Aufnahme, Ansiedlung und Gewährleistung des Wohnraums für die Deportierten beauftragt. Mit der Aussiedlung aus den Republiken wurden die Volkskommissariate für Innere Angelegenheiten der jeweiligen Republiken beauftragt, im Fall von Georgien – der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Awksenti Rapawa.
Vor dem Beginn der Deportation bekam der gesamte Stab vom NKWD Anweisungen. Sie sollten „ohne Lärm und Panik“ vorgehen. Im Falle sogenannter antisowjetischer Handlungen oder bewaffneten Wiederstands durften die „Tschekisten“ notwendige Maßnahmen zur Liquidation der sich Widersetzenden durchführen.
Fotos aus den Privatarchiven der deportierten Deutschen der Georgischen SSR. Archiv des Innenministeriums (1. Abteilung, ehemaliges Archiv des Staatlichen Sicherheitskomitees).
Die Leiter der operativen Bezirke benachrichtigten die Bevölkerung zwei Tage vor Beginn der Operation über den Ablauf und die Reihenfolge einer möglichen Aussiedlung. Es war den Deutschen während dieser Zeit nicht gestattet Versammlungen abzuhalten oder die bevorstehende Deportation gemeinsam zu erörtern.
Neben dem Volkskommissariat (NKWD) war auch das Parteiaktiv am Deportationsprozess beteiligt. Beide waren mit der Information der Bevölkerung beauftragt. Sollte ein Mitglied einer Familie sich der Umsiedlung widersetzen und somit eine illegale Handlung vollziehen, trug hierfür das Familienoberhaupt die Verantwortung.
In einem Artikel von Dawit Alawerdaschwili, welcher im „Archivboten“, dem Magazin des Innenministeriums der Georgischen SSR erschien, wird festgehalten, dass 5.226 Familien umgesiedelt wurden. Die folgenden Tabellen geben Aufschluss darüber, wie sich die Deportation auf die einzelnen Orte verteilten (Dawit Alawerdaschwili, „Auskünfte über die Deportation der Deutschen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit“, Magazin „Archivbote“, Nr. 2, 2008, Seiten 52-53).
Tabelle № 2
Bezirk | Anzahl (Familien) |
Abchasische ASSR | 261 |
Adjarische ASSR | 6 |
Südossetisches Autonomes Gebiet | 12 |
Tiflis und seine Bezirke | 1549 |
Tabelle №3
Stadtteile von Tiflis | Anzahl (Personen) |
Stalin (1. Mai, Didube) | 1813 |
Lenin (Nadsaladewi) | 1395 |
Beria (Kalinini, Mtatsminda) | 257 |
Orjonikidze Bezirk | 545 |
Molotov (Oktober, Tschughureti) | 176 |
Kirov (Krtsanisi) | 132 |
26 Kommissare (Isani) | 460 |
Tabelle №4
Bezirk | Anzahl (Familie) |
Abascha | 2 |
Adigeni | 14 |
Ambrolauri | 3 |
Akhaltsikhe | 35 |
Akhalkalaki | 35 |
Luxemburg (Bolnisi) | 1215 |
Bogdanovka | 3 |
Borjomi | 57 |
Gori | 16 |
Gegetschkori (Martwili) | 28 |
Gurjaani | 19 |
Baschkitscheti (Dmanisi) | 102 |
Zugdidi | 48 |
Zestaponi | 16 |
Karajazi (Gardabani) | 272 |
Kutaisi Bezirk | 44 |
Kareli | 4 |
Kwareli | 10 |
Unteres Swanetien | 4 |
Kaspi | 3 |
Lagodekhi | 10 |
Lantschkhuti | 1 |
Maiakovsk (Baghdati) | 1 |
Poti Bezirk | 1 |
Sighnaghi | 8 |
Samtredia | 17 |
Sagarejo | 367 |
Telawi | 11 |
Tetsritskaro | 468 |
Tkibuli | 15 |
Kharagauli | 9 |
Khaschuri | 4 |
Khobi | 3 |
Tskhakaia (Senaki) | 2 |
Tsalka | 341 |
Tsiteltskaro (Dedoplistskaro) | 19 |
Tskaltubo | 32 |
Tsageri | 1 |
Tschiatura | 6 |
Tschokhatauri | 3 |
Nicht-identifizierte Bezirke | 53 |
Nach der Umsiedlung der Deutschen war es notwendig, für ihr Eigentum und ihre Wohnräume eine neue Nutzung zu finden. Hier wurde das Trest (Amt) „Gruzinpereselenstroi“ tätig. Damals hatten die Trests ähnliche Funktionen wie heutzutage Regierungsorganisationen.
In den ehemaligen Wohnorten der Deutschen wurden kompakt Georgier angesiedelt. Innerhalb von exakt zwei Wochen wurden ganze Kolchosen nach Luxemburg umgesiedelt. 37 neue Anwohner wurden in den Straßen Klara Tsetkin, Kirpitschnaja, 9. März und Kinder angesiedelt.
Aus einem Dokument vom 19. November 1941 geht hervor, dass die Regierung der Georgischen SSR mit dem Tempo der Ansiedlung aus den Regionen, in denen Bodenmangel herrscht, nicht zufrieden war und dass ihnen auch die Anzahl der Kolchosen nicht ausreichend war. Des Weiteren zeigt die georgische Bevölkerung hinsichtlich des Wechsels ihres Wohnraumes keinen Enthusiasmus. Der Plan wurde nicht erfüllt: Im Luxemburg-Bezirk wurden 128 Familien angesiedelt, davon 78 Familien aus dem Tschiatura Bezirk – statt wie vorgesehen 200 – und 50 Familien aus Tschkhara – statt wie vorgesehen 100 Familien.
In der Kolchose Telmann sowie der Kolchose Deutsche Kommunistische Partei wurden 96 Familien angesiedelt, davon 56 aus dem Achalkalaki Bezirk, statt 100 Familien; 40 aus Bogdanowka statt wie vorgesehen 50. Die Umsiedlung musste aus den Berzirken Tbilissi, Tsageri, Ambrolauri, Kutaissi, Gegetschkori, Tschkhorotsku, Tsalenjikha, Maiakovs, Wani, Duscheti, Tianeti und Satschchere Bezirken erfolgen. Nur langsam ging der Prozess der internen Umsiedlung in den Bezirken von Bortschalo, Tetri Tskaro und Baschkitscheti (Dmanisi) voran.
Die Parteiorganisationen mancher Bezirke nahmen den Prozess der inneren Umsiedlung nicht ernst genug und schenkten der Auswahl der Umzusiedelnden zu wenig Zeit. Da sie selbst über zu wenige Arbeitskräfte verfügten, bedienten sich die Bezirksleiter folgender Tricks: so wurden beispielsweise aus dem Orjonikidze (Kharagauli) Bezirk 15 arbeitsunfähige Familien nach Bolnisi umgesiedelt, d.h. keines der Familienmitglieder war arbeitsfähig. Lokale Verwalter versuchten, faule und arbeitsunwillige Kolchosenmitglieder umzusiedeln, die bislang keinen einzigen Tag gearbeitet hatten. Viele sahen in der Umsiedlung eine Chance, ihrer wirtschaftlichen Not zu entfliehen. Der Großteil der Siedler aus Tschiatura und Tschkara waren männliche Familienoberhäupter, die sich in den deutschen Häusern niederließen. Die übrigen Familienmitglieder verblieben jedoch an ihren angestammten Wohnorten, um ihre Häuser zu erhalten. Die Regierung korrigierte die „ersten Fehler“ bald und machte zur Bedingung, dass in jeder Familie mindestens ein Familienmitglied arbeitsfähig sein musste. Das Privateigentum der Umsiedler musste an die jeweilige Kolchose abgetreten werden, das Vieh an das Fleischverarbeitungskombinat – mit der Auflage, dass die Familie am neuen Wohnort entschädigt werden würde. Die notwendigen Transportkosten musste die Finanzkasse der jeweils zuständige Verwaltung auszahlen.
Aufgrund des Befehls des Obersten Präsidiums der UdSSR vom 13. Dezember 1955 wurden die Deutschen, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit deportiert worden waren, aus der Verbannung befreit, durften jedoch nicht in ihre ursprünglichen Wohnorte zurückkehren. Das konnten sie sowieso nicht, denn „andere“ hatten ihre Häuser bezogen. Die Mehrheit der umgesiedelten Deutschen war in deutschen Siedlungen geboren worden. Mit der Deportation endete auch das Modell des sozialen und wirtschaftlichen Lebens, das diese Menschen in Georgien führten. Die Aufarbeitung dieses unbeschreiblichen Aktes der Gewalt seitens des sowjetischen Staats hat in Georgien noch nicht stattgefunden. Auf den ersten Blick scheint der die Umsiedlung vielleicht gar nicht so dramatisch. Jedoch muss man bedenken, dass Menschen ihrer Häuser beraubt worden waren, welche diese Häuser über mehrere Generationen hinweg gebaut hatten und plötzlich gezwungen waren, ihre Existenz aufzugeben, ihr soziales Umfeld zu verlassen und somit auch mit ihren persönlichen Erinnerungen an diese Orte zu brechen.