Schalwa Kikodze ist einer der bedeutendsten Vertreter der georgischen modernistischen Malerei der frühen 1920er Jahre. Trotz seines kurzen Lebens hinterließ er wichtige Spuren in der georgischen Kultur, schuf ein eigentümliches künstlerisches Denken und eine Vision, die auf dem nationalen Erbe beruhen und zugleich europäische künstlerische Tendenzen in sich tragen. Seine Malerei ist besonders im Bezug auf den deutschen Expressionismus interessant.
Schalwa Kikodze
Die frühsten Gedanken über seine Reise und Studium in Europa und vor allem in Deutschland entnehmen wir einem Briefwechsel. Am 23. August 1913 schreibt er seinem engen älteren Freund Dimitri Schewardnadze und bittet ihn um Rat, wo er sein Studium besser fortsetzen solle: in München oder in Paris. Dimitri Schewardnadze studierte selbst damals in München. Wir kennen Schewardnadzes Antwort nicht, wissen jedoch, dass sich Schalwa Kikodze für keine der beiden Städte entschied, sondern 1914 von seiner Familie nach Moskau geschickt wurde, um Jura zu studieren. Dort nahm er das Studium an der Staatlichen Universität Moskau auf. Der Schriftsteller Geronti Kikodze, ein Cousin von Schalwa erinnert sich: „Schalwa Kikodze hat mit dem Malen gleichzeitig wie mit dem Sprechen angefangen, er zeichnete alles, was dieses in einer patriarchaler Umgebung erzogene Kind beeindrucken konnte… Er war gerade drei Jahre alt, als seine rechte Hand gelähmt wurde, und er war gezwungen, mit der linken Hand zu malen…“ (I. Abesadze, K. Bagratischwili: Schalwa Kikodze, Kulturelles Erbe, Tbilisi, 2005, S. 7).
Aus Liebe zur Malerei brach er das Jurastudium ab und begann 1916, Malerei, Bildhauerei und Architektur an der Hochschule in Moskau zu studieren, später konzentrierte er sich auf die Malerei. Gleich nach seiner Rückkehr in die Heimat beteiligte er sich aktiv am kulturellen Leben Georgiens. Am 13. Januar 1920 erhielt er ein Stipendium der „Gesellschaft georgischer Künstler“ und reiste gemeinsam mit anderen begabten Malern zum Studieren nach Paris. Vielleicht zog es sein Herz aber doch eher nach München, denn sich die Metropole Paris für seine sensible Natur als schmerzhaft chaotisch erwies, ein Symbol der schonungslosen urbanen Zivilisation, in der Menschen für existenzielle Einsamkeit bestimmt sind. Er teilte seine Eindrücke mit seinen Freunden und seiner Schwester:
„Paris scheint das Zentrum der Kunst zu sein. Hier kommt alles zusammen, alle Wege stehen hier offen, alles fliesst hier zusammen. Aber das ist alt und vergangen. Das Paris, das zugleich mit uns existiert, das heutige Paris, bringt zur Verzeiflung. Überall herrschen Geschmacklosigkeit und Leichtsinn. Nirgends sind Sinn und Gefühle zu finden. Alles hängt direkt vom Geldbeutel und vom Markt ab.“ (I. Abesadze, K. Bagratischwili: Schalwa Kikodze, Kulturelles Erbe, Tbilisi, 2005, S. 42)
In der Tat sind seine Werke aus der Pariser Zeit stark expressionistisch-symbolistisch geprägt. Schon vor der Ankunft in Paris hatte Schalwa Kikodze seinen eigenen Stil gefunden, er durchlief eine rasche künstlerische Entwicklung, sein tragisch-satyrischer Blick schärfte sich in der Ferne besonders stark. Seine in den Jahren 1920–1921 geschaffenen Werke sind voller philosophischer Gedanken über den Sinn des Lebens, an Tod und Ewigkeit, in denen man eine Intuition über das tragische Los seiner Heimat herauslesen kann. 1921 fuhr Schalwa Kikodze für medizinische Behandlungen nach Deutschland – zuerst in den Schwarzwald, dann nach Freiburg. Dort starb er im Alter von 27 Jahren an Tuberkulose.
Fest, 1920
Obwohl er wegen seiner Krankheit nach Deutschland kam, können wir das aus heutiger Perspektive als schicksalhafte Fügung betrachten, denn sein ganzes Wirken ist eng dem Expressionismus verbunden und steht nicht nur der deutschen expressionistischen Malerei nahe, sondern auch der deutschen Literatur und Philosophie. Sein Interesse für das Land wird auch in den Briefen deutlich, die er aus Deutschland schickte und in denen er schrieb, dass seine Rückkehr nach Frankreich nicht eile, weil er die deutsche Kultur und die Malerei kennenlernen wolle.
Schalwa Kikodze in Deutschland, vermutlich im Schwarzwald.
Bezüge in Schalwa Kikodzes Werk zur deutschen künstlerischen Tradition zeigen sich nicht nur auf künstlerisch-formeller Seite, sondern auch hinsichtlich der Themen und Motive, die Schalwa begeisterten und die dem nördlichen Expressionismus nahe stehen: Großstädte, urbane Vergnügungen, Kaffees, Bars, Gärten, Tischgesellschaften sowie Selbstporträts, die überhaupt für den Modernismus, insbesondere aber für den Expressionismus Programm sind als Erforschung des eigenen Ich und seiner Repräsentation. Ebenso die Motive des Spiels, der Masken, des Lebens als einem Theaterspiel, der Ironie und der Groteske, des Humors. Außer dem Thema der Großstadt, der Einsamkeit, der Entfremdung des Individuums in der urbanen Umgebung, zeigt sich die expressionistische Herangehensweise des Künstlers auch in der Betonung des Gegensatzes von Mann und Frau, also der Dissoziation und der Darstellung von Einsamkeit im zusammen mit Erotik.
Das Kaffeehaus der Maler, 1920.
Drei Maler, 1920.
Die Stadt, 1920.
Schalwa Kikodzes Malerei ist äusserst komplex und mehrdeutig. Unterschiedliche Symbole und Zeichen existieren gleichzeitig: reale und allegorisch-mythische, moderne und vergangene, kurzlebige und ewige, heidnische und christliche. Insgesamt ist das 19. Jahrhundert durch eine Tendenz zurr Erneuerung der Religion gekennzeichnet, eine moderne und überraschende Synthese von Heidentums und Christentums, die auch in den Epochen der Romantik und des Symbolismus fortdauern. Später führte die Philosophie Friedrich Nietzsches das Heidentum in das Kulturverständnis zurück und stieß die Vereinigung zweier Anfänge an: des „dionysischen“ – des ungezähmten, des chaotischen, und des “apollinischen” – des wohl organisierten und harmonischen. Diese zwei Anfänge kommen auch in Schalwa Kikodzes Malerei deutlich zum Vorschein, vielleicht durch den Einfluss Nietzsches bedingt.
Außerdem finden wir bei Kikodze sogenannte doppelte Selbstporträts, das insbesondere unter den Expressionisten verbreitet war, zum Beispiel bei Egon Schiele und Ernst Ludwig Kirchner. Auch in der deutschen Literatur der damaligen Zeit taucht oft das Thema der Maske und des Doppelgängers auf, das sich auch in der Malerei widerspiegelte, denn die Persönlichkeit des Malers im 20. Jahrhunderts ist doppeldeutig und vielseitig.
Besonders bemerkenswert ist das letzte Selbstbildnis Kikodzes, „Zum Andenken des frühzeitig gefallenen Freunds“, das bis heute nicht dekodiert werden konnte und das offensichtlich durch Johann Wolfgang von Goethes Faust inspiriert wurde. Das Bild zeigt den Maler selbst, Mephisto und den Tod auf einem Schiffsdeck beim Kartenspiel. Eine persönliche Geschichte verbindet die Figur des Mephisto mit dem Maler: Auf seiner Reise von Georgien ins Ausland verlor Kikodze seine Lieblingsabbildung des Mephisto, als das Schiff durch ein Gewitter fuhr; auch die Passagiere überlebten nur knapp.
Selbstbildnisse mit einer Darstellung des Todes schufen zahlreiche europäische Maler. Besonders häufig kommt dieses Thema bei deutschen bzw. deutschsprachigen Malern vor, so zum Beispiel bei Alfred Böcklin, Lovis Korinth, Max Pechstein, Edvard Munch oder J. Enson. Zudem ist es eine Art Replik des traditionellen deutschen Totentanz-Bildes: einem allegorischen Sujet aus dem Mittelalter, das die Personifizierung des Todes als ein Symbol der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz darstellt.
Dieses Werk zeigt mit seinen symbolischen Hinweisen zweifellos eine Vorahnung des Malers über den nahen Tod. Merkwürdig ist der Titel: „Zum Andenken des frühzeitig gefallenen Freunds“, da auf dem Bild kein verstorbener Freund zu sehen ist; an seiner Stelle steht der Maler selbst und identifiziert sich mit dem Freund. Damit vereinigt Schalwa Kikodze vermutlich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und schafft ein gemeinsames Bild der überzeitlichen, symbolischen Sammelaufnahme, das vereinte Bild der Welt. Trotz seiner Tragik wird dieses Bild wie auch Kikodzes gesamtes Werk als ein Weg der philosophischen Erkenntnis und der Suche nach Wahrheit betrachtet. Bis zu seinen letzten Minuten verlor er nicht an Lebenslust, und traf er den frühen Tod, allein im Ausland sterbend, mit Ironie und einem Testament in Form eines Gedichts, das hoffnungsvoll endet:
„Es wurde ein heller Morgen mit strahlender Sonne, heiss,
Vor meinem Fenster der blaue Himmel, höflich,
Der Vogel singt, die Sonne erfreut sich, richtet keinen Schaden an,
auch in meinem Herzen schlägt das Leben, ein Leben auf tausend Wegen...
Lieber ein vornehmes Leben als jeglicher Tod“
Schalwa Kikodzes Begräbnis, Freiburg, 1921.
Schalwa Kikodze wurde in Freiburg beigesetzt. Der Begräbnisort ist ungefähr bekannt, sein Grab verschwand jedoch im Laufe der Zeit und wegen der Kriege.