Ich möchte Ihnen die Geschichte der deutschen Familie von Reck (in alten Quellen oft als von der Reck erwähnt) erzählen, die Geschichte ihrer Ansiedlung in Georgien sowie ihrer Betätigung in der neuen Heimat. Es ist leider möglich, dass Sie in meiner Erzählung einige Ungenauigkeiten vorfinden werden, da viele Unterlagen von den Winden des Lebens verweht wurden.Somit verlasse ich mich auf die mündliche Überlieferung der Familie.
Das deutsche Wort „Reck“ bedeutet „Ritter“. Mit diesem Wort wurde auch der Titel des georgischen Nationalepos „Vepkhistyaosani“ – „Der Recke im Tigerfell“ – ins Deutsche übersetzt. Ich bin eine der letzten Vertreterinnen dieser Familie in Georgien. Mir ist bekannt, dass unsere Vorfahren Barone waren. Auf dem Wappen der Familie von der Reck steht ein Eichenbaumstumpf mit einem kleinen Ast, drei Blättern und einer Eichel, sowie einem abgeschnittenen Bärenfinger (leider verbrannten unsere Fürstenurkunde, unser Wappen und andere Unterlagen im Krieg um Sochumi: unsere Tante Frieda war in Sochumi verheiratet, lebte dort und bewahrte die Unterlagen dort auf. Die allererste Granate traf ihr Haus). Wie man diese Symbole deutet, weiß ich nicht, die Experten für Wappenkunde wissen es wahrscheinlich. Ich persönlich fand darin eine Ähnlichkeit mit dem Wappen in Sir Walter Scotts Roman Ivanhoe.
Anscheinend gibt es den Nachnamen Reck in Deutschland häufig – so hieß auch der berühmte Torwart der deutschen Fußballnationalmannschaft Reck.
Im mittelalterlichen Deutschland gab es eine Tradition: der ältere Sohn erbte den väterlichen Grund und das Haus, die jüngeren Söhne hingegen wurden zu Fürsten ohne Grund und waren gezwungen, entweder in den Militärdienst zu gehen oder den geistlichen Dienst aufzunehmen, sonst wären ihnen ihr Fürstentitel entzogen worden. Aus dieser Tatsache heraus bildete sich eine ganze Schicht von grundbesitzlosen Fürsten.
Als man die deutsche Prinzessin (und künftige Zarin Katharina II.) mit Peter III., dem Sohn des russischen Zaren, verheiratete, nahm sie ihre Mitbürger, grundbesitzlose Barone mit und siedelte sie an der Wolga an, gab ihnen Grundstücke, erlaubte ihnen, ihre eigene Sprache, ihren Glauben (das lutherische Christentum) und ihre Titel beizubehalten. Dieser Schritt war nicht nur human, sondern auch pragmatisch, denn die Barone waren gute Kämpfer und konnten ihrer neuen Heimat Russland dienen. Außerdem waren die Deutschen, die Katharina mitbrachte, gute Landwirte, aus diesem Grund wurden sie an der Wolga angesiedelt. Unter ihnen waren auch die Barone von Reck, die in Russland Privilegien genossen. Viele von ihnen dienten am Hof des Zaren. Bis heute findet man zahlreiche prunkvolle Häuser in St. Petersburg und Moskau, die einst dieser Familie gehörten.
Meine unmittelbaren Vorfahren lebten in Saratow und dem Gouvernement von Saratow. Ich weiß nicht mehr, wer aus unserer Familie hatte (zur sowjetischen Zeit noch aus Georgien) eine Anfrage ans Archiv des Landeskundemuseums des Saratow-Bezirks geschickt. So oder so haben wir zu Hause einen Auszug aus der Antwort dieser Institution mit der Aufzählung, in welchen Unterlagen ‚von der Reck’ erwähnt werden. Aus diesen von Hand geschriebenen Papieren erhalten wir äußert interessante, wenn auch fragmentierte Auskünfte. Demzufolge war die Familie von der Reck in Europa seit dem XVI. Jahrhundert bekannt. Gemäß der Überlieferung hatten die Vertreter dieser Familie an zweiten Kreuzzügen teilgenommen. Im XVII. Jahrhundert war der Zweig der sächsischen Barone von der Reck am berühmtesten.
In Russland hieß der erste Reck, der erwähnt wurde, Johann von der Reck – ein Gesandter des Heiligen Römischen Reichs – der gleichzeitig Militärberater des Feldmarschalls Minnich war (Ende des XVI., Anfang des XVII. Jhds). Interessanterweise diente zur gleichen Zeit in der russischen Armee unter der Leitung des Feldmarschalls Sheremetyev ein Oberst Gustav von der Reck als Ausbilder der Artillerie, der zur Regierungszeit König Karlos XII. aus Schweden zuerst nach Riga und anschließend nach Russland ging. Schon beim Vorgänger dieses Monarchen, Karlos XI., wurden die Adligen enteignet und ihr Eigentum wurde im Zuge der sogenannten historischen ‘Reduktion‘ der Krone zugesprochen. Schließlich wurde dies auch der Grund dafür, dass Gustav von der Reck Schweden verlassen musste. Obwohl die von der Recks später mit den Deutschen zusammenlebten, die Katharina an der Wolga angesiedelt hatte, lässt mich mein romantischer Geist ersinnen, dass sich unsere Familie noch früher, schon zu Zeiten Peter des Großen in Russland niederließ und unser Vorfahre genaue der Abenteurer war, der dem Protagonisten des Romans von Boris Akunin, Kornelius von Dorn (einem Vorfahren des genialen Detektivs Erast Fandorin) ähnelt: auf der Suche nach Abenteuern verließ dieser Schweden und macht sich auf den Weg neue Länder zu entdecken.
Im Auszug des Archivs von Saratow werden einige bekannte und berühmte von der Recks aufgezählt, die im XIX. Jahrhundert im Gouvernement von Saratow lebten. Unter ihnen waren Ignatius von der Reck (1865-1912) – staatlicher Berater des Außenministeriums von St. Petersburg im Ruhestand; Karl Johann von der Reck (1855-1906) – Oberst der Gendarmerie des Gouvernements Saratow, der während der Unruhen in 1905 verwundet worden war und nach einem Jahr schwerer Krankheit verstarb. Des Weiteren Gymnasiallehrer, Kapitalisten, wohlhabende Grundherren, Opernsänger, Wohltäter, etc.
Einer unserer Vorfahren diente in der Suworow-Armee und wurde hoch dekoriert.
Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Siedlung der Wolga-Deutschen den Status eines autonomen Bezirks, deren Hauptstadt Engels hieß. Doch, wie wir wissen, wurden sie später an verschiedene Orte deportiert.
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Der erste Reck meiner Familie – mein Großvater Friedrich –ist bereits im 19. Jahrhundert nach Georgien gekommen. Er war ein berühmter Agraringenieur und wurde 1868 im Dorf Barataewka der Provinz Saratow am linken Ufer des Wolga-Flusses in die Familie des Agrarwirts und Siedlers Heinrich Reck geboren. Die Landwirtschaft war für ihn ähnlich attraktiv wie für seinen Vater, so zog er gleich nach der Schule nach Riga, um dort an der Landwirtschaftlichen Schule zu studieren. Er absolvierte sie mit einer goldenen Medaille als Auszeichnung für exzellente Leistungen und bekam ein Angebot, sein Studium in Europa fortzusetzen. Der Vater riet ihm von der Reise ins Ausland ab. So kehrte Friedrich ins Wolga-Gebiet zurück und fing an, als Agronom zu arbeiten. Damals waren in der ganzen Saratow-Provinz nur 3 Agronomen tätig. Die Arbeitsbedingungen waren sowohl für sie, als auch für die Bauern, unerträglich. Friedrich hatte innovative Pläne im Hinblick auf die Landbearbeitungstechnologien, aber die Bürokratie und die Armut erlaubten es ihm nicht, seine Pläne zu verwirklichen und nur wenige seiner Ideen konnten mit Hilfe privaten Spenden umgesetzt werden.
Friedrich und Rosalia Reck.
Später wurde Friedrich Direktor einer agrarwirtschaftlichen Schule. Er hielt dieses Amt einige Jahre inne, jedoch zog ihn die praktische landwirtschaftliche Arbeit stärker an als die pädagogische Tätigkeit. Als der Erste Weltkrieg aufbrach, unterstützte Friedrich die Soldaten, wofür er – gemäß der Familienüberlieferung – von Zar Nikolai II. sogar eine Dankesurkunde erhielt.
In den Jahren des Ersten Weltkriegs wurde mit dem großen Projekt bei Khobi angefangen, das die Trockenlegung des Sumpfes und die Einrichtung von Tee- und Zitrusplantagen vorsah. Friedrich wurde dorthin eingeladen. Anzumerken ist, dass Nikolai II. gegen dieses Projekt war und sagte, Georgier seien eine kleine Nation und deswegen zu schade, um in den Plantagen zu arbeiten. Man hat ihn aber schließlich dennoch vom praktischen Nutzen dieses Projekt überzeugt.
Außer durch nostalgische Gefühle wurde Friedrich bei der Heimkehr auch dadurch bewegt, dass – wie er selber erzählte – der Krieg das Verhältnis der Bevölkerung gegenüber den Deutschen veränderte; auch die Geistlichen standen dem lutherischen Glauben mit Skepsis gegenüber. Friedrich und seine Familie wurden in Zugdidi angesiedelt. Die Familie bewohnte einen Flügel des Palasts der Dadiani-Familie.
Trotz der Schwierigkeiten trat Friedrich seine Arbeit mit großer Begeisterung an und wurde darin dann auch sehr erfolgreich. Nach der Revolution hat man der Familie Reck den Fürstentitel entzogen, sowie auch das Adelsprädikat “von der”. Friedrich war zweifellos Pionier des Anbaus zahlreicher subtropischen Kulturen in Westgeorgien. Die Revolutionen sowie die Bürgerkriege erschwerten selbstverständlich seine Lage, er hörte jedoch nicht auf, seine landwirtschaftlichen Versuche weiterzuführen. Sein Anliegen war es, ähnlich wie in Italien auch in Georgien dreimal im Jahr Ernten zu können, da das Klima der Schwarzmeerküste sich kaum vom Klima des Adriatischen Meeres unterscheidet.
Friedrichs Familie bestand aus 5 Mitgliedern: Friedrich, seine Ehefrau Rosalia (Mädchenname Seifert) und 3 Kindern: der älteren Tochter Frieda und den Söhnen Fritz und Hans.
Hans, Fedia, Frieda, Rosalia und Friedrich Reck
Ich bin die Tochter von Hans. Meine Tante Frieda hat einen Georgier geheiratet und lebte in Sochumi, absolvierte dort das Medizinische Institut und leitete bis zum Rentenalter die Polyklinik von Sochumi.Rosalia, die Ehefrau Friedrichs, starb 1932. Die Söhne zogen nach Tiflis. Friedrich erkrankte am Ende seines Lebens schwer, war teilweise gelähmt und musste seine Stelle als Agronom in Zugdidi verlassen und sich in Otschamtschire niederlassen, wo er ein kleines Grundstück besaß. Seine kleine Rente reichte nicht aus, so ernährte er sich vom Obst und Gemüse aus seines eigenen Gartens und führte seine Versuche weiter. Zuletzt baute er Blumen an und hatte einen wunderschönen Garten. Bei ihm gediehen sogar jene Blumenarten, die zuvor in Georgien nicht bekannt waren. Friedrich verstarb vor dem Zweiten Weltkrieg. Es ist bedauerlich, dass er viele Pläne nicht verwirklichen konnte.
Mein Onkel Fritz (hier nannte man ihn Fedia) war Ingenieur, mein Vater Hans absolvierte das Landwirtschaftliche Institut und arbeitete später im Zoologischen Institut der Akademie der Wissenschaften Georgiens, war promoviert und galt – in Georgien wie im Ausland – als bedeutender Wissenschaftler. Er war praktisch der Gründer eines für Georgien vollkommen neuen Fachs – der Akarologie, die nicht-parasitische Pflanzenzecken und ihre Rolle für die Landwirtschaft und Gesundheit der Menschen erforscht. Er ist Autor von mehr als 100 wissenschaftlichen Studien, darunter eine umfassende Monographie “Handbuch zu tetranischen Zecken”, die bis heute von Forschern benutzt wird. Er war im Zoologischen Institut der Akademie der Wissenschaften Georgiens tätig, hatte Doktoranden nicht nur aus Georgien, sondern auch aus Russland, Aserbaidschan, Armenien, China u.a.
Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Frieda war nicht gefährdet, da sie mit einem Georgier verheiratet war. Fedia und seine Familie wurden nach Kasachstan deportiert, seitdem haben wir nichts über sie gehört.
Hans hatte vor dem Krieg bereits eine Familie, seine Ehefrau ist früh gestorben, er hatte einen Sohn – Vadim, den die Großmutter – die edle Frau Kato Dumbadze großzog. Sie hatte es geschafft, vor dem Kriegsbeginn den Nachnamen Vadims zu ändern (er nahm den Nachnamen des Großvaters an) und rettete somit das Kind von der Deportation. Mein Halbbruder (nun verstorben) trug den Namen Lekvinadze. Er war ein berühmter Archäologe und leitete die Abteilung für Numismatik im Georgischen Historischen Museum.
Vadim und Nino Reck
Mein Vater, Hans Friedrichowitsch war zu Kriegsbeginn bereits geschieden und als Alleinstehender wurde er nach Vorkuta deportiert. Dort arbeitete er im Kohlebergbau. Aufgrund absolut unmenschlicher Bedingungen war dort jeder dem Tod ausgesetzt. Die Pakete der ehemaligen Schwiegermutter Kato erreichten ihn im äußersten Norden nur schwer, diese seltene Hilfe war trotzdem eine große Erleichterung für ihn. Man könnte über die Erfahrungen von Hans in Vorkuta ein ganzes Buch schreiben. Mein Vater sprach nicht gerne darüber, aber aus seinen bitteren Wörtern konnte man entnehmen, dass es eine ziemliche Hölle gewesen war.
Hans Reck in verschiedenem Alter
Am Anfang arbeitete er in einer Mine, wo er es wahrscheinlich nicht lange ausgehalten hätte, weil die Bedingungen dort unerträglich waren und er schwere körperliche Arbeit leisten musste. Als man jedoch später erfuhr, dass er Biologe war, versetzte man ihn in den medizinischen Dienst. Dies war seine Rettung. Über die Zeit in der Mine erzählte er einmal folgende kleine Geschichte: zwei strafrechtlich verurteilte Häftlinge spielten einmal Karten um das Leben meines Vaters. Derjenige, der die Wette vorgeschlagen hatte, verlor und sie warfen Hans in ein tiefes Loch, in dem er zwei Tage blieb, ehe ihm jemand heraushalf. Er erinnerte sich manchmal an eine Frau, die in der Mine als Telefonistin arbeitete. Lange hörte Hans nur ihre Stimme, die aus Fernsprechern Befehle erteilte und mit groben, unhöflichen und wenig weiblichen Wörtern schimpfte. Als er sie dann zum ersten Mal sah, war er erstaunt, dass es eine ganz gewöhnliche Frau war, äußerlich sogar ziemlich attraktiv und sie konnte auch “menschlich” reden. Mein Vater sagte, dass die körperlich starken Männer in der Deportation es besonders schwer hatten und innerlich viel früher zerbrachen und starben, dort brauchte man seelische Ausdauer und Kraft. Ich erinnere mich an seine Worte: “Die Nordlichter sind das schönste, was ich im Leben je gesehen habe”. Wahrscheinlich dachte er für sich: ‘Am liebsten wäre mir diese Schönheit erspart geblieben.‘ Mir fällt kein einziges Mal ein, dass mein Vater Zorn oder Ärger bezüglich seiner Deportation zeigte. Er sagte einmal: “Wenn man es erlaubt hätte, wäre ich an die Front gegangen und hätte meine Heimat verteidigt. Dort hätte ich mehr Nutzen gebracht. . .” Aus der Deportation brachte Hans einen einzigen Gegenstand mit: einen Löffel aus Metall mit der Inschrift: «Ищи сука мясо»- “Schlampe, such Fleisch”. Dieses Souvenir bewahren wir in der Familie bis heute auf.
Nino Reck mit ihrem Vater.
Dann war es vorbei mit dem Krieg! Die Schüler, die Doktoranten, die Mitarbeiter von Hans fingen an, an seiner Rehabilitation zu arbeiten. Dies wurde von seiner ehemaligen Doktorstudentin Tamar Zhizhilaschwili geleitet. Man kann sich vorstellen, welche schwierige Arbeit diese Menschen leisteten, um das furchtbare, bürokratisch-totalitäre System zu durchbrechen. An dieser Stelle möchte ich den Menschen danken, die Hans retteten und die heute nicht mehr am Lebens sind.
Der damalige Präsident der Georgischen Akademie der Wissenschaften Niko Muskhelischwili schickte einen Brief an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion Sergei Vavilov, beschrieb den Verdienst von Hans Reck in der georgischen Wissenschaft und bat ihn, diesen Menschen aufzusuchen und ihn zu befreien. Dank großer Bemühungen von Vavilov konnte Hans nach Hause zurückkehren.
Er kehrte nach Tiflis als kranker, schwacher, praktisch sterbender Mensch, dem seine georgischen Verwandten und Freunde wieder auf die Beine halfen.
Ein Paar Jahre nach seiner Rückkehr aus der Deportation heiratete Hans Nadezhda Japaridze. Aus ihrer Ehe ging ich, Nino Reck, hervor. Als Hans in Rente ging, baute er auf seinem Feriengut in Tskneti einen wunderschönen Garten. Wahrscheinlich haben wir die Liebe zur Erde im Blut.
Nino Reck mit ihren Eltern Hans Reck und Nadezhda Japaridze
Der Nachname Reck wäre in Georgien mit mir zu Ende gegangen, wenn meine Tochter Tamar Kotrikadze ihn nicht zum Zweitnamen genommen hätte. Sie heißt Reck-Kotrikadze. Tamar ist Doktorin der Philologie und Übersetzerin. Nach ihr wird es den Nachnamen Reck nicht mehr geben, da ihre Kinder georgische Namen haben.
1) Tamar (Tata Kotrikadze) mit ihren Eltern – Nino Reck und Giorgi Kotrikadze
2) Tata Kotrikadze in Moskau, in der Piatnitskaia Straße, vor dem Haus der Recks, dem sog. “Haus mit Löwen”, das 1897 nach dem Projekt des Architekten Sergej Scherwud gebaut worden war.